
Am 24. September 2004 stürzt irgendwo im Pazifischen Ozean der Flug Oceanic 815 ab, zerbricht in zwei Teile und gilt von da an als verschollen. Die Überlebenden des vorderen und des hinteren Flugzeugteils versuchen verzweifelt, sich mit den neuen drastischen Verhältnissen zu arrangieren und das beste aus ihrer schlimmen Situation gemacht. Vorerst läuft alles auf das typische Robinson-Crusoe-Phantom hinaus, bevor die Insel selbst in den Mittelpunkt rückt und etliche dunkle Geheimnisse offenbart. Dabei werden die Überlebenden zuerst von dem seltsamen Rauchmonster gnadenlos dezimiert, bevor mit Ethan, einem Mann, der sich als Überlebender aus dem Flugzeug ausgibt, dies aber in Wahrheit nicht ist, das nächste Problem auf sie zukommt. Doch die mysteriösen Anderen, die der Zuschauer in der ersten Staffel eigentlich überhaupt nicht zu Gesicht bekommt, sind nicht die einzige offene Frage, die noch in dem tropischen Wald herum geistert. Schließlich hat John Locke, ein ehemaliger Angestellter einer Verpackungsfirma, mitten im dicht bewachsenen Urwald eine scheinbar nicht zu öffnende Luke gefunden. Ein Flugzeug von afrikanischen Drogenschmugglern, verkleidet als Priester, wird auch noch gefunden. Und neben all diesen kuriosen Gegebenheiten sind da nicht zuletzt die Probleme untereinander, die die Situation des Öfteren eskalieren lassen.
„Lost“ setzte 2004 Maßstäbe. Mit dem doppelten Piloten (der in der deutschen Fassung zu „Gestrandet, Teil 1“ und „Gestrandet, Teil 2“ wurde) rief der amerikanische Fernsehsender AMC eine TV-Serie ins Leben, die formal und narrativ mit den Konventionen brechen und somit das innovative Design der heutigen Serien hervorrufen würde. Eine Geschichte, die es schaffte, den Zuschauer durch emotionalste Charakterbetonung an sich zu binden wie noch nie zuvor, von einem Flugzeugabsturz mit anschließendem Robinson-Cruesoe-Szenario ersann man, um diese Idee im Laufe der Jahre vom bloßen Verschollenendasein zum geheimnisumwitterten Schicksalsbezug auszuweiten. Durch die wie sonst nirgendwo ausgeübte Figurenbindung, welche durch die so genannten „Flashbacks“, also Rückblicke, erlangt wurden, entwickelte „Lost“ ein extrem hohes Suchtpotenzial und dehnte die Nerven und Synapsen der Zuschauer immer wieder durch clever gesetzte Cliffhanger und neue Fragen ohne Antworten – durch das „Lost“-Gefühl, könnte man sagen. Und jetzt, Ende 2010 ist die mit Sicherheit interessanteste Serie der letzten Jahre endgültig ausgelaufen, das Treiben auf der Insel leider Vergangenheit und das höchst amüsante sowie packende Rätseln vorüber. Zeit also, einmal zurückzublicken auf jene Serie, die vor rund sechs Jahren so unscheinbar begann, Millionen begeisterte und ihren Kultstatus wohl immer behalten wird.

Die erste Szene überhaupt aus „Lost“ ist ein kleiner Klassiker: Das erst geschlossene und sich dann öffnende Auge. In jenem Fall gehört es Jack Shepard (dessen Nachname schon einen späteren biblischen Bezug aufzeigt), einem amerikanischen Arzt, der von Sydney nach Los Angeles unterwegs war, um dort seinen verstorbenen Vater zu beerdigen. Jack liegt mitten in einem Dschungel, ausgestreckt auf dem Boden und scheint im ersten Augenblick verwundert ob seiner seltsamen Situation. Dann entdeckt er einen Hund und folgt ihm an den Strand, vor er das ganze Ausmaß der Katastrophe vor sich sieht: Brennene Flugzeugteile, schreiende und verletzte Menschen, Massenpanik. Er eilt sofort zur Hilfe und versucht, mit einigen anderen, gezwungenermaßen, zu improvisieren. Währenddessen versucht man mehr schlecht als recht, sich zu organisieren. Doch die Trauer sitzt noch zu tief, als dass man sich gleich auf den weiteren Verbleib auf der Insel konzentrieren könnte. Denn erst einmal scheint noch ein wenig Hoffnung auf Rettung zu existieren, auch wenn man, wie sich bald herausstellt, bereits vor dem Absturz weit entfernt von der eigentlichen Fluglinie war. Und nun gilt es, aus dem wild durcheinander gewürfelten Haufen unterschiedlichster Menschen eine kleine Gesellschaft zu bilden – denn nach einigen Tagen ist noch immer keine Hilfe gekommen.
Jetzt ist es an der Zeit, die anderen Charaktere und die langsam, aber sicher aufkeimenden Bindungen untereinander aufzubauen und dem Zuschauer vorzuführen. Es werden die hübsche Kate, der sarkastische Sawyer, der sympathische Sayid und der an eine Bestimmung glaubende John Lock eingeführt. Auch der dicke Hugo „Hurley“ Reyes, der Musiker Charlie, die angehende Mutter Claire, die anfangs zickige Shannon und ihr Bruder Boone, das koreanische Ehepaar Jin und Sun und Michael und sein Sohn Walt werden eingeführt und mit ausreichend Szenen bedacht, sodass jeder einzelne Charakter zur Entfaltung kommt. Von diesem Moment an, wenn der Zuschauer die ersten Tage auf der Insel hinter sich gebracht hat, rücken die sensationellen Flashbacks immer mehr in den Mittelpunkt des Geschehens.Zwar hat die Rahmenhandlung immer noch oberste Priorität, doch erst durch die vielen Rückblicke erklärt sich mancher Charakter – und der Zuschauer kann Handlungen oder Aussagen nachvollziehen und somit mitfühlen. Jede Episode ist das dabei einem Charakter gewidmet und geht dabei größtenteils chronologisch vor. So erfährt der Zuschauer im Laufe der Staffel zum Beispiel, wie es zu den tragischen Ereignissen rund um John Locke und seinen Vater, dem Lottogewinn Hugos (und den damit verbundenen Zahlen) oder zu der Verhaftung Kates kam.

Hierbei entwickelt die erste Staffel von „Lost“ seine ganz eigene Faszination: Die Flashbacks in der noch normalen, heilen, alten Welt der Charaktere stehen gegensätzlich zum rauen und kräftebetonten Überlebenskampf auf der Insel. Denn mit den nächsten Episoden kommen auch die ersten Fragen. Was ist das seltsame Monster, das die Gruppe dezimiert und auch den Piloten des Flugzeugs, der nach dem Absturz noch am Leben war, brutal zerfetzte? Was hat der mysteriöse französische Notruf, der offenbar seit 16 Jahren ununterbrochen gesendet wird, zu bedeuten? Und wer sind die Anderen, von denen die Gruppe vor allem durch die ebenfalls auf Insel lebende, aber eher friedlich gesonnene Danielle Rousseau erfährt? Und dann findet Locke, der eigentlich auf Wildschweinjagd gehen wollte, zusammen mit Boone mitten im Dschungel eine kuriose Luke, die scheinbar nicht zu öffnen ist, an der aber die selben Zahlen stehen, mitten denen Hugo vor dem Absturz schon über hundert Millionen Dollar gewonnen hat. Die Geheimnisse häufen sich und die erst Staffel „Lost“ weißt, wie man den Zuschauer fesselt: Immer nur kleine Häppchen, sonst ist er irgendwann satt. Und so kommt es, dass jede nach langer und schwerer Suche gefundene Antwort auch wiederum ein neues kompliziertes Rätsel aufwirft, dessen Lösung der Zuschauer wissbegierig nachjagt.
Und zum Ende, wenn „Lost“ dank der zwei immens spannenden Handlungen zum Höhepunkt hinausläuft, kann der Zuschauer kaum an sich halten. Während Michael, Walt, Sawyer und Jin mit einem selbst gebauten Floß und Unmengen an Proviant, aber mit eher gedämpfter Hoffnung und Zuversicht in See stechen, machen sich Jack, Kate, Locke, Hugo und ein aufdringlicher und in der Kompletthandlung absolut unbedeutender Lehrer auf den Weg, zusammen mit Danielle Rousseau das sich beim Schwarzen Felsen befindende Dynamit zu transportieren. Was aufgrund zu vieler belehrender Worte nicht immer ganz schonungslos endet, aber immerhin Gedanken an einen Einstieg in die mysteriöse Luke aufkeimen lässt. Parallel zueinander verlaufen die beiden Handlungsstränge nun und bilden ein Höchstmaß an Spannung: Draußen auf See kommt es zu dramatischen Ereignissen, als sich die freudig bejubelte Rettung als etwas ganz anderes entpuppt und Hugo auf der Insel wegen der seiner Meinung nach verfluchten Zahlen in letzter Sekunde die Aufsprengung der Luke verhindern will. Natürlich endet „Exodus, Teil 3“ mit einem Cliffhanger, mit einem verflucht guten (oder besser: wie von „Lost“ nicht anders gewohnten) Cliffhanger sogar. Mehr Lust auf eine zweite Staffel zu machen, geht nicht. Die Ereignisse überschlagen sich. Und der Zuschauer förmlich auch.

Die erste Staffel von „Lost“ setzt dabei auf einen Ton, der besonders charakterfreundlich, aber auch nicht wirklich handlungsabweisend ist. In den einzelnen Episoden wird stets zwischen einigen Figuren und der Haupthandlung der jeweiligen Folge hin- und hergesprungen, was beim Zuschauer eine Art des Dabeiseins hervorruft. Schließlich werden die Aktionen von rund zehn Protagonisten ausführlich durchleuchtet, mal Sun beim Bearbeiten ihres Beetes, mal Sawyer beim Lesen gezeigt. Und dies alles, ohne je zu langweilen. Denn der Zuschauer fiebert mit. Egal, ob actionreiche, entscheidende letzte Szene einer Folge oder alltäglich gewordenes Inseltreiben – beides ist hoch interessant. Die Flashbacks geben den Rest dazu und machen aus jeder Folge ein kleines Highlight. Denn wie die Autoren es schaffen, derart viele Charaktere mit derart vielen packenden Hintergrundgeschichten zu versorgen, mag man einfach nicht glauben. Das Motto, auf der Insel könne jeder noch einmal neu anfangen, nutzen die Macher, um das Leben vor der Insel genauer zu betrachten. Weil jeder etwas zu verbergen hat. Kate anfangs, dass die eine sich auf der Flucht befindende Mörderin ist, Sun, dass sie die anderen, nicht wie vorerst gedacht, doch versteht, oder Sawyer, dass sich hinter seiner coolen, aber oberflächlichen Machoattitüde ein familiäres Drama zu verbergen scheint.
Die erste Staffel von „Lost“ ist also mehr als diese extrem komplizierte Mysteryserie mit Rauchmonstern und komischen anderen Leuten, sondern gewissermaßen auch ein Inseltagebuch. Denn so packend die Hauptgeschichte auch ist – was wäre sie ohne all diese kleinen Erzählungen drum herum? Und so fühlt man sich quasi auf einem abenteuerlichen Exotiksüdseetrip mit mystisch überhöhten Elementen, die man abends am Lagerfeuer alle noch einmal erklärt und dabei auch den Einzelheiten der anderen lauscht.